„J’ACCUSE“ – Jehan Alain (1911–1940) zum 75. Todestag
Es begann am Tage seines Heldentodes, am 20. Juni 1940, bei der Verteidigung der Loire-Stadt Saumur. Legenden über Legenden stapeln sich seitdem auf den Notenpulten verstaubter Orgelkonsolen: Jehan Alain, ein Heckenschütze? ein Widerstandskämpfer? (die „Résistance“-Bewegung entstand erst 1943!) oder ein ganz einfacher Soldat 2. Klasse, der als motorisierter Verbindungsmann (wie bedauernswert für seine junge Witwe und seine drei Kinder!) angeblich in wenigen Augenblicken sechzehn (wer hat sie denn gezählt?) deutsche Infanteristen außer Gefecht gesetzt hatte, bevor er selbst von einer Kugel tödlich getroffen wurde. Nicht anders ergeht es seinem Orgelwerk, dessen Interpreten, seit Jahrzehnten einer legendären Tradition unterworfen, große Mühe haben, sich von der erdrückenden Dominanz einer stereotyp gewordenen Spielweise zu befreien. Dies zeigte sich jüngst erst wieder beim Bundeswettbewerb „Jugend musiziert“ in Hamburg, wo ein junger Organist sanktioniert wurde, der infolge seiner Auseinandersetzung mit der neuen Bärenreiter-Ausgabe (2011) Alains Werke nach den originalen Tempoanweisungen spielte und eine neuartige, näher am Komponisten orientierte Interpretation vorlegte. Anlässlich seines 75. Todestages hat sich der Komponist Jehan Alain aus dem Jenseits zu Wort gemeldet.
„Liebe Interpreten, ich bedauere, in meinem kurzen Leben wenig Zeit gefunden zu haben, genaue Spielanweisungen für meine Werke zu hinterlassen. Es wäre umso wünschenswerter, wenn Ihr Euch die wenigen handschriftlich von mir fixierten Angaben, darunter die mitgeteilte ungefähre Zeitdauer von immerhin 18 Stücken, zu Gemüte führen würdet.
J’accuse: Wie kommt es, dass einem angehenden Organisten, der beim jüngsten Bundeswettbewerb „Jugend musiziert“ teilnimmt, Punkte abgezogen werden, weil er endlich einmal den Choral dorien in der von mir ausdrücklich angegebenen Dauer von ca 2.30 Minuten und nicht wie üblich in 5 Minuten vorträgt! Leider ist dieses Tempo-Missverständnis kein Einzelfall, sondern bei anderen Werken in ähnlicher Weise zu beobachten.1 Meinen Angaben zuwider erlauben sich manche Interpreten bei CD-Einspielungen neuerdings, notierte Schluss-Akkorde einfach wegzulassen oder zusammenhängende Werke wie Prélude et Fugue modals, die ich als Diptychon mit einer Gesamtdauer versehen habe, voneinander zu trennen. Sie berufen sich dabei auf ein von mir nummeriertes Manuskripten- bzw. Themenverzeichnis, bei dem dieses Stück tatsächlich zunächst während seines Entstehungsprozesses fragmentiert in zwei Manuskripten vorlag. Dieses Verzeichnis wird bei der Alain-Gesellschaft und auf der Wikipedia fälschlicherweise als Werkkatalog ausgewiesen. In den verschiedenen Sprachen wird dort – quellenmäßig unverbürgt – dreist behauptet, dass ich persönlich die Bezeichnung „JA“ als Kürzel für dieses von mir selbst stammende sogenannte „Werkverzeichnis“ eingeführt habe. Dies ist keineswegs der Fall!
J’accuse: Bei der Gestaltung dieses 143 Titel umfassenden sogenannten „JA“-Werkverzeichnisses fehlt es an jeglicher Logik, denn es enthält neben Transkriptionen von Werken anderer Meister auch manche skizzenhafte „Ideen“ und ganze zehn Werknummern fehlen bzw. es wird diesen Nummern kein Werk zugeordnet. Man sucht vergeblich nach den Stücken JA 102 bis JA 111. Tatsächlich hatte ich mich bei der Nummernangabe meiner Manuskripte verschrieben, indem ich versehentlich 112 auf 101 folgen ließ. Die angegebene Gesamtzahl von 143 Werknummern grenzt daher an Hochstapelei.
J’accuse: Mit Erschrecken nehme ich zur Kenntnis, dass die Vertreter der Alain-Gesellschaft sich in immer flagrantere Widersprüche verstricken. Zum einen erklären sie, ein Vergleich aller meiner Handschriften sei „verwirrend“2, möchten aber gerade eben eine solche Faksimile-Ausgabe herstellen und veröffentlichen. Man behauptet in gleichem Zuge, eine Urtext-Ausgabe im Falle Alain sei nicht vertretbar, weil es von einem einzigen Stück oft mehrere Abschriften gäbe. Dabei hat die neue Bärenreiter-Urtextausgabe nichts anderes gemacht als das, was ich ausdrücklich in einem Brief an Lola Bluhm3 gefordert habe, nämlich, den Vergleich meiner diversen handschriftlichen Abschriften mit den als definitiv geltenden, deswegen eben von mir mit Nummern versehenen Manuskripten.
Die Verwechslung von Manuskript- und Werkverzeichnis hat, wie oben dargestellt, verheerende Folgen für die Identität, die Integrität und die Interpretation meiner Werke. So rufe ich die Organisten auf, aus dem Teufelskreis der Legenden auszubrechen, meine Orgelwerke mit neuen Augen zu lesen und mit jungfräulichen Ohren zu hören.“
1 Die autographen Angaben zur Zeitdauer der Werke befinden sich in einem Brieffaksimile in: Jehan Alain, Sämtliche Orgelwerke, Band I, Bärenreiter, Kassel 2011, S. XXXI. Man vergleiche das Faksimile mit dem maschinenschriftlichen Abdruck desselben Briefes in: Aurélie Decourt, Jehan Alain, biographie, correspondance, dessins, essais. Chambéry 2005, S. 241. Von den 18 zitierten Werken werden dort 10 fehlerhaft mit zu kurzen Dauern versehen!
2 Guy Bovet, Jehan Alain. Grundsätzliche Anhaltspunkte zur Interpretation der Werke Alains, in: Jon Laukvik (Hrsg.), Orgelschule zur historischen Aufführungspraxis, Teil 3: Die Moderne, Carus-Verlag, Stuttgart, 2014, S. 217.
3 Siehe Decourt (vgl. Fußnote 1), ibid., S. 285.
Since January 2011 the works of the French composer Jehan Alain (1911-1940) have been in public domain in the countries where the copyright term is limited to 70 years. Many recent biographical articles repeat the statement printed on the cover of the Leduc editions1 released since 2001. There you read: “Throughout his short life he never ceased to compose, for the piano, the organ, chamber music, voices (soloists and chorus), and the orchestra. His catalogue comprises some 140 works.” Whereas the preface of the new Bärenreiter edition of his complete organ works2 stipulates: “In spite of his youthful age, he left some 120 compositions to posterity”.
Jehan Alain kept a numbered and thematic index of his works. However, his so-called Catalogue3 included neither his whole oeuvre nor did the compositions listed in it appear in the chronological order of their creation. It is merely a list of works with entries for 128 titles and themes, updated until 1938. Found in the list are not only elaborated themes, but also those yet to be developed. For example, the two entries under the numbers 99 and 100 are designated as “improvisation ideas.”4 The list also includes some transcriptions of works by Bach and Händel.
During the ten years of his compositional activity, did Jehan Alain write 140 or (only!) 120 works? Referring to volume II (page XI) of the new Bärenreiter edition, the following text will give some insight regarding his music and may clarify some of the problems of the Alain composition catalogues
The composer used his numberings just to arrange and to keep in order the files of his manuscripts. He did not use these numbers in the sense of “opus” numbers. For instance, he referred to the Postlude pour l’Office de Complies as “opus 1” and he labeled a manuscript page of the Variations sur un thème de Clément Jannequin as “op. 13.” The numbers in his Catalogue are entirely different: there the Postlude is number 29 and the Jannequin Variations are listed under number 118. In addition, as the result of an oversight, the composer’s catalogue displays a disrupted numbering system: the numbers 102 to 111 were not assigned
In 1945, in his biography Jehan Alain: Musicien français, Bernard Gavoty published his own newly compiled compositions catalogue. Listing ninety-three works – short pieces and transcriptions are omitted – it includes only a part of the complete oeuvre. As far as the chronological order is concerned, the Postlude (from 1930), erroneously dated here to 1932, is number 21. The Variations received number 78.
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After exhaustive study of the autographs in the possession of the Alain family as well as of additional music manuscripts held in various personal collections, I compiled a new chronological catalogue which was published in 1983 in my study Jehan Alain. Das Orgelwerk: Eine monographische Studie (French translation, “Jehan Alain. L’homme et l’œuvre,” L’Orgue, Dossier III, Paris 1985). Without transcriptions and unfinished or lost works, this catalogue contains 120 titles. In 1999, this catalogue which was then referred to by the abbreviation AWV (Alain Werke Verzeichnis) was adopted by the new edition of MGG (Die Musik in Geschichte und Gegenwart: Allgemeine Enzyklopädie der Musik, 2nd edn) as well as in 2001 by the New Grove Dictionary of Music and Musicians, 2nd edn).
At the same time, between 2001 and 2003, a new Collected Works edition was issued by Leduc. Edited by Marie-Claire Alain the works were now for the first time provided with a “JA” catalogue number referring to the composer’s fragmentary numbering list of his works. The composer’s file was posthumously completed by adding the numbers 129 to 143; the missing numbers 102 to 111 were not assigned to a piece of music. In 2008, for an unknown reason, the online version of the Grove Dictionary erased the AWV-catalogue in favour of the JA-catalogue. 143 “works” (including transcriptions, ideas or themes for improvisation) are listed; ten of them (JA 102 to JA 111) are invalid numbers
140 or 120 works ? Is it just a matter of misleading calculating ?
1 L’Œuvre d’Orgue de Jehan Alain, Nouvelle édition revue d’après les sources par Marie-Claire Alain, 3 volumes, Leduc : Paris, 2001-2003.
2 Jehan Alain, L’Œuvre d’Orgue, édité par Helga Schauerte-Maubouet,
3 volumes, Bärenreiter : Kassel, 2011 3 See the fac-simile in Marie-Claire Alain, Notes critiques sur l’œuvre d’orgue de Jehan Alain (Leduc: Paris, 2001), pp. 16–24.
4 These are only a very few measures in length. They were published in volume III (Paris: Leduc, 1943, p. 32) under the titles Christe eleison and Amen. They were more recently republished under the titles Christe, eleison and Deuxième Amen in Seize pièces pour piano (Paris: Leduc, 1992)